Tom und die Faszination Pferdewette

Nein, er hatte nicht auf den Rücktritt vom Papst gewettet. Tom ist ein seriöser Wettprofi und hält sich an die vom Vater vorgelebten Regeln. Die ersten Stunden auf der Pferderennbahn hatten ihre Spuren hinterlassen. Von dieser prickelnden Atmosphäre kam Tom nie wieder los. Der ehrgeizige und intelligente Sohn wollte es auch nicht. Die Faszination des Turfsports, das ausgucken der Pferde, das setzen auf Sieg oder einen großen Einlauf waren immer wieder eindrucksvoll. Alleine die Stimmung auf der Tribüne. Das Raunen. Die Sprüche.

,,Da kannst Du das Sparbuch drauf setzen. Gidron mit Martin ist unverlierbar“

Champion-Jockey Martin Rölke gewann dann auch. Quote 12:10. Manch einer hatte einen Tausender gesetzt.

,,Bei Regen kannst Du Odin blind wetten.“

Öffnete der Himmel seine Schleusen war Odin, aus dem benachbarten Halle vom Rennstall von Trainerfuchs Jochen Müller angereist, immer eine Bank. Bei tiefen Boden war Odin ein Rennpferd einer anderen Klasse. Unterschied wie Tag und Nacht. Hintergrund war übrigens, dass es auf dem Trainingsgelände bei Trainer Müller oft in der Winterpause Überschwemmung gab. Die Jockeys Angelika Glodde oder Hilmar Kottwitz können ein Lied davon singen.

Schön und mit einem Aha-Effekt im Endergebnis war auch der Spruch:

,,Tauwind kommt aus Pardubice. Er kann das Hürdenrennen hier nicht verlieren.“

Zur Überraschung der Favoritenwetter gewann Jürgen Szydzik mit Tauwind wie er wollte und es gab eine Quote mit einem vernehmlichen Raunen auf der Tribüne. 42:10 für den erst wenige Tage vorher in Pardupice gestarteten Hinderniscrack. Eine verdammt lukrative Sache. Auch für Tom.

Rennkurier in der linken Hand und der Tabaksbeutel für die Eheringe

Dann gab es auf der Tribüne noch eine besondere interessante Gruppe. Sie wirkten immer wie etwas besonderes. Sie adelten förmlich ihr unmittelbares Umfeld. Die Buchmacher in ihrer guten Kleidung mit dem Rennkurier in der linken Hand und dem Tabaksbeutel. Jenes Utensil hatte eine besondere Bewandtnis.

Tom kannte sie alle. Die distinguierten privaten Buchmacher auf der Tribüne im Scheibenholz, ihre Tabaksbeutel, in denen sie Eheringe als Wetteinsatz aufbewahrten. Manch Kunde war halt beim 8. Rennen nicht mehr flüssig. Also wurde der Ehering in Zahlung gegeben. Nicht jedesmal wurde er gleich ausgelöst. Jene Wetter hatten meist ein eigenes Geschäft (Blumenladen, Gaststätte oder Fischladen) und lösten über kurz oder lang meistens ihre Eheringe wieder aus.

Die Bibel auf dem Tisch und Quotenübermittlung aus der Telefonzelle

Die Rennbahn hingegen nur besuchen um zu gucken ohne einen Einsatz zu tätigen ging eigentlich gar nicht. Ein Wochenende ohne Wetteinsatz war ein verlorenes Wochende. Auch Renntage außerhalb des Heimatortes waren keine abstinenten Tage. Nehmen wir Hoppegarten als Beispiel. Jenes Mekka des Pferderennsports. Immer für eine Pferdewette gut. Auch im internetlosen Zeitalter in den Achtzigern.

Tom war oft live dabei in den Leipziger Gaststätten – der Rennkurier war die Bibel auf dem Tisch , sein älterer Kumpel, nennen wir ihn Mark, hatte ihn in die Szene eingeführt und lief dann in den Rennpausen mit Tom zur Telefonzelle um einen Mittelsmann in Hoppegarten anzurufen. Die Ergebnisse des jeweiligen Einlaufs wurden übermittelt sowie dann zeitversetzt die Quoten vom Renngeschehen in Erfahrung zu bringen. Das Zeitalter von Internet, der Handys und Tablets war noch nicht angebrochen. Das Wort Smartphone hätte für ungläubiges verdrehen der Augen gesorgt. Die Geldbeträge wurde dann vom Buchmacher in der Gaststätte Burgkeller an den Kreis der  Wettgewinner ausgezahlt. Jetzt residiert in diesen Räumlichkeiten übrigens der Systemgastronom Alex.

Das Ritual

Doch jetzt schreiben wir das Jahr 2013. Tom ist hochkonzentriert. Er will wieder gewinnen. Sein PC fährt hoch. Die Pferdewetten sind wieder zu setzen. Sein Gesicht ist entspannt. Die blauen Augen nehmen die verschiedenen Buchmacher in Augenschein. Die Form, die unterschiedlichen Rennen, die Quoten. Ein altbekanntes Ritual setzt gleich wieder ein. Seine Haushälterin Melinda bringt ihm nach einem ausgiebigen Frühstück seinen Espresso ins Arbeitszimmer.

Ein ganz normaler Bürotag in Deutschland im Mai 2012

08:00 Entspannt mit dem öffentlichen Nahverkehr ins Büro

08:35 Jacket im Büro aufgehangen. E-Mail Eingang checken.

08:45 Kollegen an gewonnene Sportwette auf Hertha Niederlage erinnern

08:50 Ersten Kaffee im Büro trinken, Rosinenbrötchen tunken

08:56 Mentale kurze musikalische Auszeit mit youtube vorbereiten

08:59 Bluesige Entspannungsmusik mit Muddy Waters genießen

09:30 Konferenz. Kollegen an ausstehenden Wetteinsatz erinnern

10:00 Zurück im Büro. Ablage. Blick auf die Kultseite entwicklungsvorsprung

10:30 Genüßlicher Blick auf den Aufgalopp im Leipziger Scheibenholz

11:05 Blick auf die Uhr. Zweites Frühstück in Sicht. Wird auch Zeit.

11:15  Zweites Frühstück mit Kollegen S. Austausch über Pferdewetten

11:45 Kantine. Sport Diskussion fortsetzen. Es dreht sich um König Otto

12:40 Eiligen Außentermin vortäuschen: schnell mal rüber zu Kaufhof

13:45 Beim Bereichsleiter Sorge über Zustand von K. äußern

14:30 Am Drucker Powerpoint-Präsentation der Kollegin H. abgreifen

14:55 Druckerpapier und Textmarker Stabilo für daheim einstecken

15:15 All-inclusive-Angebote für Tour de France Ankunft in Paris checken

15:40 Präsentation von H. unter eigenem Namen der Zentrale senden

16:10 Auszubildenden (Hertha Fan) im Großraumbüro hochnehmen

16:20 Die Bundesligawettgelder von den Kollegen einsammeln

17:10 Endlich Feierabend. In der Tiefgarage auf Bereichsleiter warten:

,,So spät noch?“

17:50 Von der Frau wegen aufreibenden Bürotag bedauern lassen

17:55 Gut gekühltes Entspannungsbier von der Frau servieren lassen

Anmerkung

Alles an diesem Büroarbeitstag ist erfunden, das hoffe ich zumindest. Namen der Personen sowie Ablauf in der Firma sind ebenso frei erfunden wie die beschriebenen Situationen und Handlungen.

Ich versichere, dass ein Bezug zu realen Geschehnissen in deutschen Büros nicht beabsichtigt ist, auch wenn sich ein solcher finden sollte.