Bobby Fischer: Zug um Zug in den Wahnsinn oder der vergebliche Versuch einer objektiven Rezension

Ich habe keine Fernsehzeitung. Doch die wichtigen Sendungen erreichen einen auch per Hinweis aus der Leserschaft. Schach im TV. Es war keine verlorene Lebenszeit. Die 90-minütige Dokumentation auf arte von Liz Garbus über den begnadeten Schachweltmeister von 1972. Dortmund gegen Marseille war nie eine ernsthafte Option. 22.00 Uhr war am Dienstagabend arte Zeit. Zug um Zug in den Wahnsinn – Die Legende von Bobby Fischer. Ich habe jede Minute des Films intensiv eingeatmet. Klar, ich bin Fischer Fan. Habe das Schachmatch des Jahrhunderts 1972 aus der Perspektive eines damals 9-Jährigen erlebt. Emotional tief verankert. Am 26. März 2010 schrieb ich hier auf dem Blog eine Reminiszenz an das Schachmatch des Jahrhunderts und erinnerte mich unter anderen daran: 

,,Ich selber war damals 9 Jahre alt. Mit 6 Jahren hatte ich das Schachspiel von meinem Vater gelernt. Er sah 1960 bei der Schacholympiade in Leipzig Bobby Fischer live gegen Michail Tal. Die Erinnerung steckte tief in ihm. Für den Schachkampf gegen Boris Spasskij drückte er Bobby Fischer die Daumen. Jeden Schnipsel aus der Zeitung las mein Vater mir vor. Im Radio wurde stündlich nach Nachrichten gesucht. Nein nicht die allgemeine Weltlage. Nicht der Wetterbericht. Nachrichten aus Reykjavik waren das Ziel.“

Ich bin also kein objektiver Beobachter des Films Zug um Zug in den Wahnsinn gewesen. Schachgenie Bobby Fischer. Die Bilder zum Ende seiner Laufbahn   Lebensreise in der Doku von Liz Garbus stimmten nachdenklich und traurig. Der Film behandelt natürlich auch sehr ausgiebig jenes legendäre Schachmatch des Jahrhunderts 1972 in Reykjavik zwischen Bobby Fischer und dem Leningrader Boris Spasskij.

Das Schachgenie Bobby Fischer hielt sich bereits in den frühen 60igern für den besten Schachspieler der Welt. 1972 in der isländischen Hauptstadt Reykjavik bewies er es der ganzen Schachwelt. Das von der Presse zum Wunderkind hochstilisierte Schachtalent war mit 14 erstmalig Schachmeister in den USA sowie mit 15 Jahren bereits Schachgroßmeister. Bobby Fischer krönte mit 29 seine Schachlaufbahn und wurde Weltmeister. Das Match ging auch als Kampf der Systeme in die Geschichte ein. Es bleibt einem im Film auch nicht der Anblick alter Protagonisten der jeweiligen Blöcke wie Breshnew oder Kissinger erspart. Tief durchatmen.

Auch die Kindheit von Fischer mit seiner frühzeitigen Hingabe, ja Besessenheit zum Schachspiel, und die komplizierte Familienkonstellation wird in Bildern und Worten erzählt. Der Versuch einer Konstruktion. Genie und Wahnsinn liegen oft beieinander. So das landläufige Schubladendenken. Ist dem wirklich so? An den Stellen des Films wo es eine Reihe von Hobbypsychologen zu Erklärungen des nervlichen Zustands von Bobby Fischer treibt, bleibt bei mir immer eine Skepsis. Wer bitte kann hinter die Stirn eines anderen Menschen schauen?

Der eine oder andere Schachfreund wird den Film vielleicht verpasst haben. Kein Problem. Jetzt kommt ein kleiner Serviceteil.

Den kompletten Film gibt es auf arte noch bis zum 12. Dezember im Netz zu sehen. Hier geht es zur kompletten Dokumentation

Einen weiteren Ausstrahlungstermin des Films gibt es am Montag, den 19. Dezember 2011, zur geschmeidigen Sendezeit von 10.05 Uhr

Für Bobby Fischer Freunde, Fans, Nostalgiker, Schachspieler  wie mich gab es reichlich bekanntes Bildmaterial und auch einiges neues. Die Sequenzen zum Beispiel von Fischers gnadenlosen Fitnessprogramm vor dem Schachmatch des Jahrhunderts waren spektakulär. Die Aufnahmen im Wasser beim Schwimmen, seine Situps, sein Ehrgeiz bei diesen körperlichen Trainingseinheiten waren intensiv. Leibesübungen unter professioneller Anleitung. Atemtechnik. Mentalpower wie sie auch Boxlegende Ali zeigte.  Dabei sah ich erstmals auch einen nackten Bobby Fischer. Normalität beim Duschen.

Die von Bobby Fischer geäußerte und gewünschte 20-Jährige Regentschaft eines Schachweltmeisters verkürzte sich dann nach dem WM-Titel 1972 leider doch erheblich. Anatoli Karpow setzte sich die Krone kampflos auf. Bobby  Fischer machte sich rar. Seine Wüstenzeit. Später das Match gegen Boris Spasskij 1992 … Zwei müde Schachgroßmeister. Die Spielqualität wurde damals im Spiegel-Interview – Er zerstört seine eigene Legende von Gari Kasparow mit niedrig eingestuft. Doch es gab politisches Ungemach. Der Film zeigt auch jene Sequenz – Fischer spuckte auf das Schreiben der US-Regierung. Anschließend begannen intensive Probleme für den amerikanischen Schachgroßmeister mit der Regierung der USA. Fischer auf der Flucht. Ich war fast geneigt per Fernbedienung wegzuschalten. Da bröckelt dann schon ein wenig vom eigenen Heldenbild. Dabei waren mir die Sachen und der tragische Lauf der Dinge bekannt. Okay, die Sache mit dem Schachhelden ist einfach subjektiv geprägt. Emotional sehr tief verankert. Ich wiederhole mich da gerne.

Es gab eine Zeit da trug Bobby Fischer Maßanzüge und sah makellos aus. Siehe auch Als Schachspieler wie Bobby Fischer mit Anzug und Krawatte spielten. Um so trauriger stimmte in den späten Jahren auch das äußerliche Bild vom Schachgenie mit IQ 184.

Das Leben von Bobby Fischer passt freilich nicht in einen 90-minütigen Film. Alleine über das Schachmatch des Jahrhunderts in Reykjavik 1972  könnte es einen mehrstündigen Dokumentationsfilm geben. Würde ich mir den Film Zug um Zug in den Wahnsinn auch im Kino anschauen? Ist das Werk auch Nicht-Schachspielern zu empfehlen? Wird der Mythos Fischer zerstört mit dieser Doku? Diese Fragen kann und will ich jetzt gar nicht abschließend beantworten. Vielleicht braucht es da auch bei mir etwas Bedenkzeit.

Nachdenkenswert #118

„Wir haben in der ersten Halbzeit richtig gut gespielt und haben alles richtig gemacht. Wir waren nicht hektisch, sondern haben uns den Gegner zurechtgelegt. Alles war gut in dieser ersten Halbzeit, aber dann haben wir uns alles zunichte gemacht. In der zweiten Halbzeit war dieses Spiel ein ganz anderes, diese Tore muss man trotzdem nicht kriegen. Bei einem 2:1 hätten wir sieben Punkte, so haben wir vier, das ist schon ein dramatischer Unterschied.“

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